Die Windfee und das Segelboot

Veröffentlicht auf von Szintilla

Die Windfee und das Segelboot

Die Windfee und das Segelboot

Ein kleines, hübsches Segelboot, mit blendend weißen Segeln, trieb über den weiten Ozean. Es freute sich an der Sonne und den Wellen, es fehlte ihm nur der rechte Wind, um vollends glücklich über das Wasser zu reiten. Eines Tages begegnete ihm die Windfee. „Hallo Segelboot, wohin des Weges?“ wisperte und säuselte sie als sie das Boot umkreiste. „Einmal um die ganze, große, bunte, weite Welt!“, antwortete das Boot.„Du kommst aber nur langsam voran, wenn du hier so herumdümpelst!“ „Das stimmt. Ich brauche Wind, Wind und nochmals Wind, um voran zu kommen. Kannst du mir nicht helfen und ein bisschen fester pusten?“ „Klar kann ich das“, freute sich die Windfee, weil sie endlich eine Aufgabe hatte. „Setze deine Segel und ich zeige dir was ich kann.“ Die Windfee war eine stürmische, ungeduldige Begleiterin, die mit ihren ganzen Kraft das Segelboot hin- und herschaukelte und es vorantrieb. Die Böen verfingen sich in den Segeln und blähten sie mächtig auf. Das Boot nahm Fahrt auf und glitt zu Beginn fröhlich über die Wellen; trotz ihres unterschiedlichen Temperamentes passten die Beiden wunderbar zusammen. Das Boot brauchte die Windfee, um gute Fahrt zu machen und die Windfee erlebte Spaß an ihrer Kraft. Hier auf dem Meer, in den Segeln des Bootes, wirkte sie nicht zerstörerisch, sondern hilfreich. Sie blies und blies. Die Segel des Bootes stellten sich ihr mit ihrer ganzen Kraft entgegen. Das Boot hüpfte freudig über die silbrig schäumenden Wellenkämme. Tag um Tag und Woche um Woche glitten die Beiden durch ihre schäumende Welt. Sie wollten nicht voneinander lassen, denn sie wussten, dass sie sich brauchten.

Eines Tages aber raffte das Boot plötzlich seine Segel und die ungestüme Kraft der Windfee fegte ins Leere. Wieder und wieder versuchte die Windfee die Segel zu blähen, aber sie bemühte sich vergeblich. Wie sehr sie sich auch anstrengte, ob sie von Nord, Süd, Ost oder West wehte, nichts bewegte das kleine Boot vorwärts. Es dümpelte lustlos auf dem Wasser, als schien es vergessen zu haben wohin es wollte. „Hey, sag mal, was ist denn los mit dir?“ fragte die Windfee verständnislos. „Ich mühe mich ab, damit wir vorwärts kommen und zusammen die Welt entdecken und du, was machst du? Du raffst deine Segel. Ohne die Segel kann ich dich aber nicht bewegen. Ich puste hier herum ohne dass es uns was bringt.“ Das kleine Boot sagte nichts, es blieb stumm und rührte sich nicht. Es lies sich teilnahmslos von der Meeresströmung mitziehen. Die Windfee unternahm noch so manche Anstrengung, aber das Boot stellte sich taub und stumm. Das unermüdliche vergebliche Pusten hatte die Windfee ermüdet und täglich verlor sie ihre Kraft ein bisschen mehr. Noch einmal unternahm sie einen Versuch und wollte vom kleinen Boot wissen was los sei: „Wenn du weiter hier so unschlüssig rumhängst, kommst du entweder nie irgendwo an oder du landest dort wohin du gar nicht willst.“ Das kleine Segelboot druckste ein bisschen herum und sagte dann ganz kleinlaut: „Du machst mir Angst, du bist so ungestüm und ich weiß gar nicht genau wohin ich will. Treibst du mich nach Norden, dann komm ich nicht nach Osten, Süden oder Westen. Treibst du mich in eine von diesen Richtungen komme ich nicht nach Norden. Und ich will doch eigentlich alles!“ Trotzig fügte es hinzu: „Ich weiß noch nicht wohin ich will und deshalb will ich hier stehen bleiben.“

Die Windfee dachte eine Weile still nach, dann sagte sie: „Ja, das kann ich gut verstehen, so eine Entscheidung zu fällen ist schwer, aber wenn du keine Wahl triffst, wirst du am Ende gar nichts sehen. Du wirst hier herumdümpeln, wirst mal von einem vorbei eilenden Wind ein Stück mitgenommen, dann wieder still daliegen. Vielleicht kommt eines Tages ein Seeungeheuer und lässt dich kentern oder dein Mast bricht und du kannst deine Segel nicht mehr setzen. Was hast du dann von deiner Unentschlossenheit gehabt? Dann wirst du dir wünschen du hättest eine Entscheidung getroffen. Soll ich ewig warten und mit dir hier herumdümpeln? ... mitten auf dem Ozean, wo wir nichts anderes sehen als den Himmel und Wasser ... Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ Das kleine Segelboot verstummte und schwieg.

Auch die Windfee wurde leiser und leiser und schwieg am Ende ganz, sie war sie zu erschöpft. Sie legte sich nieder und schaute lange und traurig zu dem kleinen Boot. Sie dachte immerzu darüber nach was sie noch tun könnte. Manchesmal, wenn sie glaubte das kleine Boot bemerkte es nicht, fielen glitzernde, silbrige Tropfen in die Wellen.

Währenddessen schaukelte das Segelboot weiter unentschlossen ohne Kurs dahin. Bald schlief die Windfee ein. Sie hielt aber immer ein Auge offen, um nicht zu versäumen falls das Boot seine Segel doch wieder setzte und einen neuen Kurs bestimmen würde. Die Windfee erwartete nichts sehnlicher, als den Moment des erneuten Startzeichens. Sie wollte ihre ganze Kraft wieder in die Segel blasen. Sie liebte es das weiße Segeltuch mit Wind zu füllen, um von ihm gebremst zu werden. Es ließ sie spüren wie viel Kraft und gute Energie in ihr steckte. Dächer abdecken, Bäume knicken und entwurzeln das war ihre zerstörerische Kraft, die andere Seite die sie nicht gern mochte. Sie kannte ihre Schattenseiten nur zu gut, lieber legte sie sich bei dem Boot schlafen. Aus der stürmischen, ungeduldigen Windfee war eine geduldige, sanfte Brise geworden, die ab und zu das kleine Segelboot streichelte, um zu schauen, ob es sich rührte. Voller Wehmut dachte sie an die stürmischen Zeiten, sie wollte so gern wieder über den Ozean fegen, mächtige Wellen vor sich hertreiben, Sonne in der Gischt glitzern sehen. Sie wollte Delfinschulen begleiten, Wale singen hören und die Häfen der Welt sehen. Noch hoffte sie, dass das kleine Segelboot bald wissen würde was es wollte. Immer, wenn sie das Segelboot einmal wieder vergeblich umrundet hatte, legte sie sich auf die Wolken, schlief ein und träumte von einer anderen Zeit.

Niemand weiß was aus den beiden geworden ist und wenn das kleine Segelboot, mit seinen gerafften Segeln nicht im Meer der Unentschlossenheit gekentert ist und die Windfee ihren letzten Windhauch noch nicht getan hat, dann werden sie vielleicht irgendwann gemeinsam einen Hafen erreichen oder sie werden beide für immer in der Weite des Ozeans der Unentschlossenheit umherdümpeln. Wer weiß?

Veröffentlicht in Wortwolken, fairy tale

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