Wenn 5:12 Uhr 5 vor 12 ist...
Ein Satz, der gestern im Laufe eines Gesprächs fiel und die Hoffnung auf nichtvorhandenen Groll oder Zorn ausdrückte, ist in der Nacht in meinen Träumen Trampolin gesprungen. Um 5:12 Uhr krachte er, mit samt der darin verborgen liegenden Erkenntnis, durch das Netz, wovon ich um 5:12 Uhr mit Herzrasen und der Frage aufwachte: "Wo ist eigentlich meine Wut?" Dem Herzrasen nach zu urteilen, bin ich selbst stundenlang Trampolin gesprungen.
"Wut, was ist das denn?" war dann die zweite Frage, die ich mir stellte, als ich mich etwas beruhigt hatte. Wann war ich wirklich wütend? Erschreckt stellte ich fest, dass leidenschaftliche Wut, ja gar Vernichtungszorn das letzte Mal in meiner Kindheit stattfand. Mit der Überlegung und der Erinnerung an das Ereignis, kam auch gleich die zweite Erkenntnis. Nach diesem Kindheitserlebnis war alle Wut für mich tabu. Ich hatte verinnerlicht Wut ist schlecht, Wut ist negativ, Wut ist Aggression, Wut bringt dir Verluste, wer wütend wird verliert was er liebt. Also war meine damalige Schlussfolgerung: Wut ist destruktiv und nicht hilfreich.
Aber Wut ist all das nicht. Wut ist neben den Gefühlen wie Trauer und Angst ein Prozess, der Heilung bringt. Unterdrückte Wut und die Suche nach ewigen Verständnis für alles und jedes, verhindert die Wahrnehmung der eigenen Grenzen. Die Frage und die Antwort darauf wie oft ich anderen Gelegenheit gab Grenzen zu überschreiten, auf Gefühlen herumzutrampeln, weil ich nicht ausdrückte wie sehr mich dies oder das verletzte, wie sehr ich mich missachtet, zurückgesetzt oder ignoriert und nicht wahrgenommen fühlte, erschreckten mich.
Wieso ich nun immer wieder versuche zu verstehen, statt klar: "Stopp, bis hierhin und nicht weiter!", zu sagen, wurde auch klar. Das Thema ist Verlustangst. Wer Verlustangst hat verliert - immer wieder und wieder. Ein Teufelskreis, der selbst erfüllenden Prophezeiung. Immer lieb und nett sein schützt andere, aber um uns zu schützen, braucht es auch Wut, denn Wut hilft verletzte Seelen und Herzen zu beschützen und nicht in Depressionen zu verfallen. Allerdings müssen wir Wut, die Ausdruck unserer verletzten Grenzen und Gefühle ist, aber die Liebe für das Gegenüber nicht untergräbt, von der den anderen verletzenden Aggression unterscheiden. Wut zeigt nur unsere eigene Verletzlichkeit, in dieser Wut kann trotzdem Verständnis und Mitgefühl für die Handlung der anderen Person liegen, die in uns Schmerz, Verletzung, Enttäuschung oder Trauer auslöst. Wut als beschützende Potenzial des eigenen Selbst, welche hilft mit Ungerechtigkeiten, Unfairness, Verwirrungen und dem Gefühl der Hilflosigkeit umzugehen, zeigt nur dass wir uns selbst ernst nehmen, unsere Grenzen kennen und bereit sind diese Grenzen nicht überschreiten zu lassen und zu verteidigen. Solange wir unsere Grenzen nach außen nicht deutlich sichtbar ziehen, geben wir selbst den Raum frei für Grenzverletzungen. Unterdrückte Wut ist nicht selten ein Zeichen, dass wir uns selbst aus Angst vor irgendetwas verbiegen.
Eine späte Erkenntnis, also quasi 5 vor 12 um sie zu verinnerlichen und umzusetzen, wenn ich es in diesem Leben noch lernen will, mir auch einmal zu erlauben nicht nur ein bisschen sauer, sondern richtig wütend zu sein und das auch zu zeigen.
Kann Wut nicht auch nur ein leidenschaftliches Feuer sein, das unserem Willen zum Durchbruch verhelfen kann, weil sie klar macht was wir wirklich wollen und wie ernst es uns damit ist?
Wut sollte nicht dazu benutzt werden anderen zu schaden oder sie zu verletzen, sondern es geht nur darum sie selbst wahrzunehmen und die entsprechen Haltung zur Situation einzunehmen. Wenn es uns gelingt, die Wut als Kraft zu nehmen, die uns wohnt, kann sie uns helfen ungute Situationen aufzulösen. Wahrgenommene und gezeigte Wut trennt nicht, sondern öffnet Wege zu tieferem Verständnis, denn sie zeigt dem Gegenüber unsere verletzliche Seele.